Zwischen Glaube und Vernunft: Wurzeln unseres heutigen Glaubens und Denkens

Auf Einladung des Evangelischen Bildungswerkes im Dekanat Münchberg kam Schwester Nicole von der Christusbruderschaft Selbitz nach Münchberg.

„Thanks for having me“ begrüßt sie ganz modern das Publikum.

Man kann sie auch als Privatdozentin Dr. Grochowina ansprechen, denn die gebürtige Hamburgerin, aktiver St. Pauli-Fan und studierte Historikerin lehrt am Institut für Kirchengeschichte der Universität Erlangen.

„Ich wollte Journalistin werden, zum Spiegel gehen und die Welt retten: aber das ist ja Gottes Job“, so Grochowina ganz persönlich. „Im 5. Semester habe ich mich verliebt: in die frühe Neuzeit.“

Doch statt Hochschul-Karriere und Uni-Laufbahn kam die ewige Profess.

Seit 13 Jahren trägt sie das Ordenskleid mit der Kordel darüber und den 3 Knoten darin. Diese stehen für Armut, Keuschheit und Gehorsam. Launig ergänzt Schwester Nicole: eigentlich müsse ein vierter Knoten ergänzt werden für Gemeinschaft, denn: „alle meine grauen Haare sind kommunitär“.

Sie bewohnt nach eigener Aussage die Zwischenräume („wo es zugig ist“) zwischen Orden und Wissenschaft, zwischen Theologie und Geschichte. Ihr youtube-Kanal heißt „Sista´s vlog“ und manchmal sagt sie Fun Fact.

Können wir aus der Geschichte lernen?

Spurensuche ist ein komplexer Vorgang und niemals Selbstzweck.

Die Vergangenheit muss in ihrem So-Sein gewürdigt werden, die Zeitgenossenschaft der Menschen ernst genommen werden. Damit verbieten sich Schnellschüsse oder markige historische Vergleiche. Die Vergangenheit ist kein Steinbruch für Fragen der Gegenwart.

„Alles Gewordene hat Geschichte“, so Grochowina. In einer globalisierten Welt ist alles irgendwie miteinander verknüpft. Und dies gilt nicht nur für Phänomene der Gegenwart, sondern auch für die Vergangenheit. Keine Geschichte und kein Gedanke ist jemals zu Ende gesagt und gedacht.

Warum denken und glauben wir wie wir denken und glauben?

Welche Traditionen haben diese Art des Glaubens und des Denkens begünstigt?

Schwester Nicole taucht zunächst ein in die Frühe Neuzeit und macht anschließend einen Sprung über 200 Jahre in die Spätaufklärung.

Die Frühe Neuzeit ist natürlich mit der Reformation verbunden. Gleichwohl ist das reformatorische Geschehen mehr als das Engagement eines einzelnen Menschen. Es ist vielmehr ein politisches, soziales und immer auch religiöses Gefüge.

„Reformation ist Transformation“ so zitiert Grochowina den Kirchenhistoriker Volker Leppin. Denn zusammen mit der Betrachtung der spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis und der Theologie müssen auch die staatsbildenden Prozesse in den Blick genommen werden. Das Verhältnis von Kaiser und Reichsständen wurde neu ausgehandelt.

Dreh und Angelpunkt ist nicht nur die politische Freiheit, sondern auch die religiöse: die volle Freiheit eines Christenmenschen!

Das Gottesbild wandelt sich: weg vom strafenden Gottesbild der mittelalterlichen Kirche hin zur Wiederentdeckung des ursprünglich biblischen Gottesbildes: der Gott, der aus Gnade seine Fürsorge schenkt und als einzige Gegenleistung den Glauben erwartet.

Dass Bauern um 1524 die Abschaffung der Leibeigenschaft forderten und damit aus dem Wissen um die innere Freiheit, um die „Freiheit eines Christenmenschen“ heraus auch die äußere Ordnung gefährdeten und letztlich durch diese Gefährdung transformierten ist eine Konsequenz dieser neuen Welt- und Gottessicht, die sich sukzessive durchsetzen sollte – und heute nicht mehr aus dem lutherischen Selbstverständnis wegzudenken ist. Diese Note des „Priestertums aller Gläubigen“, die damit einhergehende Eigenverantwortung, aber auch die dem zugrundeliegende individuelle Glaubenserfahrung der Gnade Gottes ist ein Kernelement lutherischer Identität und damit auch als eine wesentliche Wurzel heutigen Glaubens und des Denkens zu erachten.

Wie aktuell möchte man ausrufen, angesichts der sog. Partizipationskrise im 16. Jahrhundert: das Selbstbewusstsein der Laien wächst und dies hat Folgen für Glaube und Denken.

Eine Kirche der Freiheit, die das Priestertum aller Glaubenden zu ihrem wesentlichen Element erklärt hat, verweist sehr deutlich auf die Eigenverantwortung des Einzelnen.

Diese Frage der Eigenverantwortung stellt sich auch 200 Jahre später, in der sog. Spätaufklärung. Auch hier geschah Transformation. Auch dies ist das Erbe, mit dem wir heute noch unterwegs sind: „Erbe oder Hypothek?“ so stellt die Referentin in den Raum: denn gemeinhin wird der Aufklärung vorgeworfen, der erste Schritt zur Säkularisierung und damit zur Dekonstruktion allen Glaubens gewesen zu sein.

Am Beispiel des Gewitters macht Grochowina die sich wandelnden Gottesbilder deutlich.

Unwetter waren gewaltsame Ereignisse der Natur, die Rede vom strafenden Gott schien angesichts ihrer Stärke mehr als naheliegend.

Es kam die Erforschung der natürlichen Ursache von Blitz und Donner. Es kam die Domestizierung der Natur durch die Technik. Es kam der Sieg eines rationalen Weltbildes.

Gewitter waren nicht mehr die Strafe Gottes, die es zu vermeiden galt: „mit allen Kräften des Gemüths, des Verstands, des Willens und deren Sinne darauf ausgerichtet werden, Gott gehorsam zu folgen und zu fürchten um so Glückseligkeit zu erlangen.“

Ein neues Denken kehrte ein und dem Glauben fast schon den Rücken.

Schmunzelnd erläutert Dr. Grochowina, dass ausgerechnet in Ihrer Heimatstadt Hamburg an der Hauptkirche St. Jacobi 1769 der erste Blitzableiter installiert wurde.

Was bleibt am Ende übrig? fragt die Referentin: Glaube und Vernunft, sie traten mit der Veränderung der Weltbilder immer mehr in ein gegensätzliches Verhältnis. Aber es gewissermaßen das Erbe der Frühen Neuzeit, dass genau dies möglich wurde.

Vernunft und Wissenschaft hebeln den Glauben nicht aus: „Je besser man das Wirken des Universums versteht, umso näher kommt man Gott“ meinte schon Albert Einstein. Zu Forschen heißt: die Grenzen des Erforschbaren zu erreichen und mit Dingen konfrontiert zu sein, die so unwahrscheinlich sind, wie die Existenz dieser Erde.

Auch dies gehört zur Wurzel unseres heutigen Denkens, in dem der Glaube noch Anteil hat, auch wenn sich dies immer weniger in der Mitgliedschaft der Kirche widerspiegelt.

Mit langem Applaus und lebhafter Diskussion dankte das Publikum Sr. Nicole, dass sie sich im 5. Semester verliebt hat!